Panorama von Küstrin um 1935, Öl auf Leinwand (220cm x 120cm) v. Norbert Streich, Rep. Tomasz Kulik | zur Startseite Panorama von Küstrin um 1935, Öl auf Leinwand (220cm x 120cm) v. Norbert Streich, Rep. Tomasz Kulik | zur Startseite

033479547845

Schriftgröße: A A A
 

Die ungetaufte Glocke

Viele Sagen in der Neumark knüpfen sich an große Steine, alte Kirchen, verschwundene Ortschaften, Teiche, Seen und Glocken. Man braucht nur eine Tagesreise zu machen und dann gewiss sein, einen Glockensee, Glockenteich, Glockenweiher oder auch Glockenfenn anzutreffen. Überall wird erzählt, daß man in der Abendstunde die Glocken in dem See, Teich oder Weiher hat deutlich und klar läuten hören. Wenn Kinder und Erwachsene in großen, schattigen Wäldern nach Sonnenuntergang den Schall ferner Glocken vernehmen und nicht zu sagen vermögen, aus welcher Richtung die Schallwellen erklingen, so sind sie nur allzugern bereit, den traulichen Erzählungen der Alten von den Winterabenden her zu glauben und sich selbst zu überreden, dass die Glockenklänge aus baumumkränzten und im tiefen Waldesdickicht liegenden Teichen oder Seen zu ihnen schallen. Manchmal will man sogar schon die Kirchenturmspitze, die vollständige Kirche, ja das ganze Dorf gesehen haben. Die Bewohner mit all ihrer Habe sollen untergegangen sein wegen unsühnbarer Schuld und großer Freveltaten.

 

Wie ist nun aber die Glocke in den See gekommen? Unsere sage berichtet uns folgendes: Ringsum von dunklen Kiefern- und Tannenwäldern bekränzt, liegt das kleine, schmucke Dörflein Bettitz. Dort steht eine eine uralte, einfache Kirche mit einem Holzturm. Ersteigen wir den Turm, so sehen wir zwei Glocken, von denen eine den Namen „Anna“ und die andere den namen „Susanna“ führt. Außerdem bemerken wir jedoch noch einen dritten Glockenstuhl, der zum Tragen einer Glocke vollständig eingerichtet ist, aber die Glocke fehlt. Nur kurze Zeit, so berichtet die Sage, habe die Glocke ihren Platz eingenommen und die Bewohner durch ihren milden und silberklaren Klang erfreut. Warum ist sie heute verschwunden? Als der Glockengießer den Auftrag erhalten hatte, für die Kirche die drei Glocken zu gießen, hatte er vergessen, der letzten Glocke einen Namen zu geben und sie zu taufen. Weil sie nun einen so wunderbaren Klang hatte, wollte er sie nicht noch einmal umgießen. Nach dem Glauben des Volkes kann aber eine ungetaufte Glocke ihre Aufgabe nicht erfüllen. Weil der Meister sie jedoch nicht zurücknehmen wollte, brachte man sie doch auf den Turm. Die beiden anderen Glocken verachteten und verschmähten oft ihre namenlose Schwester und mochten sie nicht leiden. Da konnte es die ungetaufte Glocke nicht länger in der Gesellschaft der beiden anderen aushalten, und als an einem schönen Abende die Sonne mit ihren letzten, feurigen Strahlen durch die Lucken des Kirchturms auf die drei Geschwister sah, da befreite sie sich aus ihren Banden und flog davon. Ihren zänkischen Geschwistern aber rief sie beim Scheiden zu:

 

„Anna, Susanna, ich fliege aus,

Und komme mein Lebtag nicht mehr nach Haus !“

 

Sie gelangte endlich müde und matt bis an einen Waldsee und fiel hinein. Schon oft, so berichtet die Sage weiter, hat man versucht, die Glocke aus dem See zu winden, aber immer vergeblich. Einmal hatten Holzarbeiter die Glocke bis an den Rand gezogen, da sie es aber nicht vermochten, si ganz herauszuziehen, so holte man aus dem Dorfe zwei Pferde herbei und spannte sie davor. Als aber der Knecht, der ein roher und gottloser Mann war, zu fluchen anfing, da sank sie wieder zurück und zog den Knecht mit seinen Pferden auch mit hinein in das kühle Grab.

 

Es wird auch nicht mehr lange währen, so wird der See vollständig zugewachsen sein. Er teilt hierin das Schicksal mit jedem anderen Glockensee, Glockenteich und Glockenfenn. Die  Bewohner aber vergessen mehr und mehr die Sagen von verschwundenen Dörfern, Städten, Kirchen und Glocken.